Bidirektionales Laden: Gamechanger der Elektromobilität?
Elektroautos als mobile Speicher für erneuerbare Energien – das ist die große Vision des bidirektionalen Ladens. Die Ladeinfrastruktur-Leitmesse Power2Drive in München hat die technischen Möglichkeiten vergangene Woche im Rahmen einer Sonderschau aufgezeigt. Peter Schwierz, Chefredakteur von electrive, hat sich dort umgehört und Experten zum Stand der Technik in den Perspektiven befragt – in Deutschland und darüber hinaus.
Ein Gesprächspartner ist Marco Piffaretti, ein Pionier des bidirektionalen Ladens, der inzwischen für die Internationale Energieagentur (IEA) tätig ist. Piffaretti erklärt, dass erneuerbare Energie heute der zentrale Energieträger sei, die jedoch unregelmäßig verfügbar seien. Um diese Volatilität auszugleichen, brauche es mehr kurzfristige Flexibilität. Dabei gebe es zwei Optionen: „Kupfer zu verbauen“ für die Netze oder „Intelligenz und Bidirektionalität und Speicher zu verbauen“.
Insbesondere V2G-Technologie könne helfen, beim Netzausbau rund „10 Milliarden Euro zu sparen“. Allerdings gebe es noch ein großes Hemmnis: die fehlende Standardisierung. Zwar existiere mit der ISO 15118-20 ein globaler Normierungsansatz, doch es gäbe noch viele „Dialekte“. Die „Task 53“ der IEA will innerhalb von zweieinhalb Jahren mit einem Konsortium „weltweit diese Sprache auf einen Dialekt fokussieren“, um Interoperabilität zu ermöglichen.
Ebenfalls in der Reportage zu Wort kommt Dr. Stephan Hell von Compleo Charging Solutions, einem Ladeinfrastruktur-Hersteller, der inzwischen zu Kostal gehört. Hell berichtet, dass Compleo sowohl AC- als auch DC-bidirektionales Laden entwickelt hat, aber AC voraussichtlich günstiger für den Endkunden sein werde. Ziel sei es, „unter die 3.000-Euro-Hürde“ bei DC-Wallboxen zu kommen und bei AC-Systemen unter 1.500 Euro oder gar 1.000 Euro zu liegen. Beim AC-System muss deshalb ein Teil der Leistungselektronik ins Fahrzeug ausgelagert werde, was die Wallbox günstiger mache, aber erfordere, dass die Onboard-Lader in den Fahrzeugen entsprechend ertüchtigt werden. Wichtig sei, dass „die Rahmenbedingungen, die jetzt schon existieren, […] so klar und genau spezifiziert sind, dass jeder im Prinzip weiß, auf was er sich einlässt.“ Die Hardware sei „eigentlich aus heutiger Sicht schon so weit definiert“, Änderungen seien hauptsächlich softwareseitig zu erwarten.
Die Markteinführung des Systems plant Compleo laut Hell „eher im zweiten Teil“ des Jahres 2027. Eine breitere Verfügbarkeit wird für die Jahre 2028 bis 2030 erwartet, zunächst in Premiumfahrzeugen, später im Massenmarkt. Hell ergänzt abschließend: „Ab 2028 würde ich sagen, fängt dann die Musik an zu spielen.“
Dr. Mark Kuprat vom Projekt BI-CCS erläutert derweil eine Gleichstromlösung mit Technik von Volkswagen und EVTEC, die bereits kommerziell verfügbar ist. Die Lösung adressiert Use Cases von Vehicle-to-Home bis Vehicle-to-Grid, insbesondere aber das „Redispatch 3.0“-Modell, das Fahrzeugbatterien zur Netzstabilisierung einbindet. Ziel sei es, Elektrofahrzeuge so zu steuern, dass sie im Norden mit Windstrom geladen und im Süden zur Entlastung des Netzes entladen werden. „Die Kosten für Einspeisemanagement und Redispatch belaufen sich seit Jahren auf über eine Milliarde Euro pro Jahr“, sagt Mark Kuprat – Kosten, die durch bidirektionales Laden vermieden oder zumindest reduziert werden könnten. Die technische Umsetzung benötige allerdings noch einige Jahre; Kuprat erwartet den breiten Einsatz frühestens „Ende des Jahrzehnts“.
Ex-VW-Chef Herbert Diess betont in der Reportage indes, dass bidirektionales Laden für ihn ein „Herzensthema“ sei. Elektroautos stünden 90 Prozent der Zeit ungenutzt herum – „eine große Batterie, die wenig genutzt wird“. Gleichzeitig bräuchten Stromnetze flexible Speicher. Diess nennt das bidirektionale Laden deshalb auch ein „Breitbandantibiotikum“, das Autofahren günstiger, das Stromnetz stabiler und den Ausbau Erneuerbarer effizienter mache: „Je mehr Erneuerbare wir haben, desto günstiger wird der Strom.“
Mit Renault habe The Mobility House, wo Herbert Diess inzwischen den Verwaltungsrat leitet, bereits ein Serienprojekt gestartet, bei dem Kunden in Frankreich über die Rückspeisung etwa „10–11 Cent pro Stunde“ erhalten. Die erfreuliche Folge: „Man kann 10.000 Kilometer im Jahr gratis Autofahren“, so Diess. Ziel sei nun, das System weiter zu skalieren. Auch Mercedes-Benz werde bald mitmachen. Langfristig wünsche er sich Standardisierung – idealerweise auf DC-Basis, auch wenn AC derzeit kostengünstiger sei. Von der Politik fordert Herbert Diess eine Gleichstellung der mobilen mit stationären Speichern und einen beschleunigten Smart-Meter-Rollout. Auch die Vielzahl an Verteilnetzbetreibern (über 800 in Deutschland) sei ein strukturelles Problem.
Mit dem Projekt BDL-Next wollen BMW und E.ON die Technologie mit realen Kunden testen. BMW stellt dafür E-Fahrzeuge der neuen Klasse zur Verfügung, E.ON liefert intelligente Stromtarife, das Energiemanagement und übernimmt auch den Stromhandel. Der Vorteil für die Kunden: „Sie können ihren Strom selbst speichern und bei Bedarf nutzen oder am Markt teilnehmen und so Geld sparen.“ Gesucht werden 20 Pilotkund:innen mit PV-Anlage und Offenheit für neue Technologien im Gebiet von Bayernwerk und Westnetz. Die genauen Details zu den Anforderungen erläutern Dr. Claudia Häpp von E.ON Energie Deutschland und Dr. Jens Berger von der BMW Group in der Reportage.
Wir wünschen Ihnen viel Spaß mit dem knapp 30-minütigen Video!
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