MG4 Electric: Attraktives Gesamtpaket oder Preiskracher ohne Substanz?

Bei sonnigen und für einen Novembertag viel zu warmen 17 Grad hatten wir die Gelegenheit, den MG4 Electric im Münchner Umland zu testen. Bei dessen Plattform hat sich MG Motor mal mehr und mal weniger deutlich von Volkswagens Modularen E-Antriebs-Baukasten (MEB) inspirieren lassen, ist aber signifikant günstiger. Was kann der chinesische Preiskracher technisch?

Beim Test auf den kurvigen Landstraßen rund um den Tegernsee macht der MG4 viel Spaß – die 150 kW auf der Hinterachse bieten eine solide Performance und sind für diese Größenklasse mehr als ausreichend. An der Ampel lässt der MG4 die meisten Verbrenner stehen und gerade im Stadtverkehr macht der kleine Wendekreis viele Manöver deutlich leichter. Auch auf der Autobahn liegt er gut auf der Straße, zeigt keine Nervosität und beschleunigt bis auf 130 km/h zügig und darüber hinaus bis zu den abgeriegelten 160 km/h einen Tick gemütlicher, aber doch flotter als z.B. Wettbewerber von Stellantis.

Fahrverhalten: Viel Komfort und ein bisschen Sport

Die Lenkung ist, wie im chinesischen Markt beliebt, butterweich, sicher etwas gewöhnungsbedürftig, dass sich das Auto fast durchgängig mit zwei Fingern lenken lässt: Was beim Einparken angenehm ist, ist auf der Autobahn für den europäischen Geschmack doch etwas zu gefühllos. Schwammig ist die Lenkung dabei aber nicht, sie jetzt jede Bewegung sehr präzise um – nur eben mit sehr wenig Widerstand. Sportlichen Fahrern könnte das zu leicht sein, im Alltag ist die weiche Lenkung aber wahrscheinlich eher bequem.

Völlig unsportlich sind allerdings die Sitze, ihnen fehlt nicht nur Seitenhalt, sondern auch eine Lendenstütze. Nichtsdestotrotz sitzt es sich gerade im Fonds sehr gut, gefühlt einen winzigen Tick besser als im ID.3: Eine gute Oberschenkelauflage (die man bei vielen anderen BEVs auch im Jahr 2022 noch vergeblich sucht) und viel Beinfreiheit machen die Rückbank sehr bequem, lediglich eine Mittelarmlehne lässt sie vermissen.

Für die Außenabmessungen überraschend groß ist der 363 Liter (respektive 1.177 Liter) fassende Kofferraum, unter dessen doppeltem Boden sich nicht nur ein Reifenreparaturset, sondern auch schlaue Kabeltaschen verstecken, die mit Klettverschluss fixiert werden, sodass nichts durch die Gegend fliegen kann.

Verbrauch und Laden: Durchaus langstreckentauglich

Angegeben ist der größere Akku mit 130 kW DC-Ladeleistung, in unserem Test standen tatsächlich sogar 145 kW auf dem Display der Schnellladestation. Diese Spitzenleistung hält er vergleichsweise lange, sodass für eine 10- 80 % Ladung 28 Minuten ausreichend waren, was den MG4 Electric durchaus für Urlaubsfahrten qualifiziert. Auch die relativ niedrigen Verbräuche tragen dazu bei, den Wagen langstreckentauglich zu machen. Besonders schlau ist außerdem die Akkuheizung, die sich, im Gegensatz zu diversen Wettbewerbern, auch auf Fahrerwunsch manuell aktivieren lässt, damit die Batterie bei Erreichen des Schnellladers schon auf Temperatur ist. So muss das sein!

Natürlich sind Verbrauchswerte auf eintägigen Fahrveranstaltungen immer mit Vorsicht zu genießen, dennoch bieten sie eine erste gute Orientierung. In unserem Fall lag der MG4 am Ende des Tages bei 16,9 kWh/ 100 km in einem sehr durchmischten Fahrprofil: Vollstrom auf der Autobahn (abgeriegelt ist der MG4 laut Datenblatt bei 160 km/h, der Tacho zeigte in der Spitze 172 km/h an), mehr Stehen als Fahren im Münchner Stadtverkehr und viel Kurvenspaß auf den Landstraßen rund um den Tegernsee. Bei 62 kWh Netto-Energiegehalt des Akkus ergibt sich bei dem Verbrauch eine Realreichweite von knapp über 360 Kilometern.

Assistenzsysteme: Quasi nicht vorhanden

Für Langstreckenfahrten eher hinderlich sind allerdings die Assistenzsysteme, die sich während des Tests als echter Wermutstropfen in einem ansonsten ziemlich guten Fahrzeug erwiesen haben. Wie auch schon im von electriv.net getesteten ZS EV erfüllt Der Abstandsregeltempomat seine Funktion so ruckartig, dass Fahrgäste bei jeder Geschwindigkeitsanpassung ähnlich stark nicken, wie bei einem klassischen Handschalter-Verbrenner beim Treten der Kupplung – immerhin hält er aber grundsätzlich den Abstand, während der Spurhalteassistent vieles macht, aber nicht die Spur halten. Sehr nervös pendelt der MG4 vom linken zum rechten Fahrbahnrand und ähnelt dabei einem Hasen, der dem Fuchs einen Haken schlagen möchte. Das macht sein Wolfsburger Pendant noch deutlich besser. Positiv zu erwähnen ist aber die 360-Grad Kamera, die beim Einparken sehr hilfreich ist und in der Preisklasse bei weitem nicht jedem Fahrzeug spendiert wird.

Infotainment: Viel drin, aber eine sehr wichtige Funktion fehlt

Das Infotainmentsystem bietet alle gängigen Features, hat eine solide Sprachsteuerung (mit Luft nach oben, aber die wichtigsten Grundfunktionen beherrscht sie gut) und ein gutes Navi. Leider lässt dieses einen E-Routenplaner vermissen – Ladestopps muss man sich noch selbst zusammensuchen. Eine Datenbank über Ladestationen ist zwar vorhanden, allerdings zählt alles ab 50 kW bereits als „super-schnell“ und der Betreiber-Filter kennt gerade mal sechs Anbieter – hier wird man also wohl eher zu einer Drittanbieter-App greifen. Das ist aber dank Apple CarPlay und Android Auto (jeweils nur kabelgebunden und nicht drahtlos) problemlos möglich.

Besonders positiv hervorgetan hat sich die durchdachte Lenkradbedienung, die neben Medien- und Tempomat-Steuerung auch direkten Zugriff auf die Klimafunktionen ermöglicht, ohne dass man die Hände vom Lenkrad nehmen muss. Die Darstellung im Cockpit erlaubt sich zwar noch den einen oder anderen Schreibfehler, aber das erlebt man auch in Fahrzeugen, die doppelt so teuer sind (Grüße an Polestar) und lässt sich ja per Software-Update vergleichsweise einfach ausbügeln.

Wer gerne Musik streamt, kann dies ebenfalls über CarPlay/Android Auto tun, oder das nativ integrierte Amazon Music nutzen. Beim Soundtest fällt auf, dass ein lauter Bass die Fahrertürverkleidung zum Wackeln bringt. Auch beim Fahren über Kopfsteinpflaster macht sich eine deutliche Vibration des Armaturenbretts bemerkbar, generell ist der MG4 qualitativ nicht perfekt – das erwartet in der Preisklasse aber auch niemand. Hochwertiger verarbeitet als die meisten gleich teuren Stellantis-Modelle ist er alle mal.

Direktvergleich zum ID.3

Volkswagen und die MG-Mutter SAIC arbeiten seit über 30 Jahren zusammen, nicht nur der MG4 als Einzelmodell, sondern die gesamte Plattform nimmt sich wenig überraschend sehr viele Inspirationen vom MEB, deswegen soll hier noch einmal beide Fahrzeuge direkt verglichen werden. Abmessungen, Akkugrößen und das Interieur sind sich sehr ähnlich. Beide Fahrzeuge verwenden viel Hartplastik, das im ID.3 wirkt allerdings einen Tick hochwertiger als bei der Konkurrenz aus Fernost – generell würde aber beiden Fahrzeugen ein etwas sparsamerer Einsatz von Glossy-Plastik sehr gut tun. Weiterhin hebt sich das VW-Modell mit einem funktionierenden Ladeplaner, wirklich guten Assistenzsystemen und einem tollen Head-up-Display vom MG4 ab. Dafür sind die Touch-Knöpfe am Lenkrad des ID.3 deutlich schlechter als die physischen Tasten im MG4 und der ID.3 punktet mit dezidierten Temperaturreglern und einem Gangwahlknopf direkt an der Lenksäule. Der runde Gangwahlknopf in der Mittelkonsole des MG4 nimmt nicht nur unnötig viel Platz weg, sondern erinnert auch mehr an die Entertainment-Drehdrückregler von BMW und Mercedes – entsprechend groß ist die Versuchung, mit dem Gangwahlhebel den Radiosender zu wechseln.

Beide Fahrzeuge eint das gute Platzangebot im Fond, der hervorragende Wendekreis, das Fehlen eines vorderen Kofferraums und relativ niedrige Verbrauchswerte. Auch der Antriebsstrang leistet bei beiden 150 kW und beschleunigt den Wagen in gleicher Zeit (7,7 Sekunden beim MG4, 7,3 bis 7,9 Sekunden beim ID.3) von 0 auf 100 km/h.

Wer viel Langstrecke fährt, ist im Moment wohl mit dem VW-Modell besser bedient, Ladeplaner und Assistenzsysteme sind hier deutlich ausgereifter. Auch die Verfügbarkeit einer 77-kWh-Batterie – bei MG sind (noch) 64 kWh das Ende der Fahnenstange – macht die Wahl für alle, die gerne weniger Ladestopps haben, einfach.

Beim Blick aufs Preisschild hat allerdings klar der MG4 die Nase vorne, der startet mit der 62 kWh Batterie (64 kWh brutto) vor allen Förderungen bei 35.990 € inkl. MwSt., während der ID.3 mit einer vergleichbar großen Batterie (58 kWh netto) ab 38.060 € inkl. MwSt. zu haben ist.

Fazit

In einem Marktumfeld, in dem Preise und Lieferzeiten nur eine Richtung kennen (nach oben), ist der MG4 ein angenehmer Gegenpol. Er besticht primär dadurch, dass er fast alle Tugenden des sehr ähnlichen Volkswagen ID.3 teilt, dabei aber mindestens 2.000 Euro billiger ist. Auch, wenn in einigen Details noch ein bisschen und insbesondere bei den Assistenzsystemen ganz gehörig nachgebessert werden muss, ist der MG4 in seiner Größen- und Preisklasse ein attraktives Gesamtpaket.

Wie sich die Reichweite allerdings im Winter entwickelt und wie gut die Ladeperformance im alltäglichen Betrieb bei niedrigeren Temperaturen aussieht, werden wir in einem längeren Test herausfinden müssen. Solange es die aktuellen Umweltbonus-Förderungen noch gibt, ist er mit dem kleineren 51 kWh Akku ab 22.420 € inkl. MwSt. zu haben.

1 Kommentar

zu „MG4 Electric: Attraktives Gesamtpaket oder Preiskracher ohne Substanz?“
Sami Zahn
17.11.2022 um 16:56
Die Verfügbarkeit dürfte dem MG4 dennoch zu einem großen Erfolg verhelfen, wo sich andere Hersteller in der Werbung sonnen, liefert dieser Hersteller wahrscheinlich aus.

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