Bild: Daimler Truck
FahrberichtNutzfahrzeug

Probefahrt mit dem eActros 600 Prototyp im Tarnkleid

Kurz vor der Weltpremiere des Mercedes-Benz eActros 600 hat Daimler Truck einige Medienvertreter zur Probefahrt in dem elektrischen 40-Tonner eingeladen. Für uns erklomm Redakteurin Cora Werwitzke die Stufen hoch ins Fahrerhaus und nahm auf dem Beifahrersitz Platz. Ein Erfahrungsbericht.

Ein Pkw in Camouflage ist ein ungewöhnlicher Anblick, beim 40-Tonner im Streusel-Zebra-Look potenziert sich dieser Eindruck. Voilà, da ist er, der eActros 600 im Tarnkleid. Genau genommen ist es nicht das Serienmodell, in das Daimler Truck eine kleinen Runde von Medienvertretern am Stammwerk Wörth am Rhein bittet, sondern ein „seeeehr seriennaher Prototyp“, wie die Entwickler im Vorfeld der Testfahrt betonen. Das Weltdebüt des Elektro-Kolosses am 10. Oktober kann ohne Zweifel als eine der bedeutendsten Marktdebüts im Nutzfahrzeugsektor dieses Jahres bezeichnet werden. Was kann er also, Mercedes‘ Hoffnungsträger für den Fernverkehr?

Wiederholen wir vor der 20-minütigen Ausfahrt kurz, was über das Modell bereits publik ist: Die Sattelzugmaschine beherbergt zwischen ihren Achsen drei Batteriepakete mit einer installierte Gesamtkapazität von über 600 kWh. Die Typbezeichnung 600 leitet sich dabei – wie beim eActros 300/400 für den Verteilerverkehr – von ebendieser Batteriekapazität ab. Ebenso wie die kleineren Geschwister setzt der 600er auf eine elektrische Starrachse mit zwei integrierten Elektromotoren. Diese generieren eine Dauerleistung von 400 kW sowie eine Spitzenleistung von über 600 kW. Debütieren wird im eActros 600 eine 800-Volt-Systemarchitektur.

Klar ist seit der IAA Transportation 2022 ferner, dass der eActros 600 mit einer Reichweite von rund 500 Kilometern 2024 in Serie gehen und den kommenden MCS-Ladestandard unterstützen soll. Das Elektro-Schwergewicht kann laut Daimler Truck an MCS-Ladern künftig mit etwa einem Megawatt in deutlich unter 30 Minuten von 20 auf 80 Prozent aufgeladen werden. Interessant auch: Der Hersteller ist bei seinem 40-Tonner erstmals auf die Lithium-Eisenphosphat-Zelltechnologie umgestiegen. Laut Karin Rådström, CEO Mercedes-Benz Trucks, wegen der hohen Lebensdauer und mehr nutzbarer Energie. Das Fahrzeug soll 1,2 Millionen Kilometer Laufleistung in zehn Betriebsjahren schaffen. Alle weiteren bis dato bekannten Daten zu dem Fahrzeug haben wir in diesem Artikel aufbereitet. Zusätzlich zur Sattelzugmaschine will Mercedes-Benz Trucks übrigens direkt ab Marktstart auch Pritschenfahrgestell-Varianten des eActros 600 bauen.

Und damit ins Stammwerk Wörth zum getarnten Hauptakteur, dessen Front sich – Camouflage hin oder her – von seinen Verbrenner-Pendants und Elektro-Geschwistern aus demselben Haus abzuheben verspricht. Schon im Vorfeld kündigten die Entwickler „klare Linien und eine aerodynamischen Formgebung“ an. Es ist also davon auszugehen, dass der 600er auf der Straße optisch als solcher identifizierbar sein wird.

Tür auf, die paar Stufen hoch in die Kabine. Dort begrüßt mich Tobias Zaehrl, Entwicklungsingenieur ePowertrain der Daimler Truck AG. Er sitzt bei unserem kleinen Ausflug am Steuer – und leitet direkt mit den Worten ein, dass das Innere der Kabine „so noch nicht repräsentativ ist“. Offensichtlich ist das bei Messtechnik und Kabeln, die zwischen den beiden Sitzen ausgebreitet sind und die der Entwicklungsabteilung noch Feedback zur Performance des Prototypen geben. Sonst unterscheidet sich die Kabine auf den ersten Blick kaum von anderen Fernverkehrs-Fahrerhäusern: zwei Sitze, Bett, funktional-robustes Cockpit.

Schnell wird klar: Wir haben es noch mit einem Lkw-Küken zu tun: Unser Exemplar hat erst zarte 350 Kilometer hinter sich. „Dieser hier war nicht bei der Sommer-Erprobung in Spanien. Die dort eingesetzten Prototypen haben einige 1.000 Kilometer drauf“, erzählt Tobias Zaehrl – und startet die Maschine. Geschmeidig surrend fährt der Sattelschlepper an und ordnet sich in den Werksverkehr ein.

Der Auflieger trägt die Aufschrift von der Fliegl Fahrzeugbau GmbH, ein Anhänger-Hersteller mit Sitz im thüringischen Triptis. „Wir sind übrigens 40 Tonnen schwer“, kommentiert Zaehrl als er jenseits des Werkstors in Richtung Landstraße beschleunigt. Im Fahrerhaus bleibt es ruhig, kein vibrieren, kein hörbar arbeitender Motor. 40 Tonnen? „Was wir denn geladen haben?, will ich wissen. „Kies!“

Die Unterschiede zum mittelgroßen eActros-Lkw sind natürlich vor allem zweckbedingt. Nicht nur die Fernverkehrs-Kabine unterscheidet sich vom bettlosen Fahrerhaus des eActros 300/400, auch der Unterbau (mit der Batterie-Unterbringung, dazu mehr zur Weltpremiere) und das künftige Laden wurden neu gedacht: Der 600er wird bei seinen weiten Strecken häufiger auf öffentliches Laden angewiesen sein und erhält dafür einen MCS-Anschluss. Das ist bei dem in der Regel über Nacht im eigenen Depot ladenden, kleineren eActros mit CCS-Port nicht der Fall. Zaehrl berichtet, dass man beim 600er auf Prototyp-Fahrten aktuell „an Pkw-Ladern mit CCS“ in der Tat an Grenzen stoße. Kein Wunder: bei 300 kW ist im Highpower-Ladebereich für Pkw in der Regel Schluss. Noch recht selten sind 400-kW-Lader. Es wird also Zeit, dass ein Megawatt-Ladenetz für Lkw und Reisebusse entsteht.

Auf der Ausfahrt rund um Wörth erreichen wir auch kurzzeitig die 80 km/h – auf deutschen Autobahnen die Höchstgeschwindigkeit für Lkw. Es surrt gleichmäßig. Selbst bei Steigungen (die an diesem Tag in der Rheinebene naturgemäß nicht anfallen) sollen die Motoren das Elektro-Kolosses laut Zaehrl unbemerkt arbeiten. Brummig-laute Rückmeldung? Fehlanzeige. Elektronisch begrenzt ist der eActros 600 auf 89 km/h. Außerdem erfahren wir, dass „die Elektronik-Architektur gleich bleibt“. Zaehrl führt aus, dass sich Truck-Fahrer deshalb im 600er bei den bewährten Anzeige- und Assistenzsystemen nicht umstellen müssen. Im Cockpit ersetzt einzig ein Powermeter die Drehzahlanzeige und eine Ladestands- die Tankanzeige.

Übrigens: Während wir wieder durch das Tor zum Stammwerk zurückkehren, hat Daimler Truck einen anderen 40 Tonner aus der Familie der Prototypen kürzlich auf eine Alpen-Testfahrt geschickt. Konkret absolvierte das Modell die Route von Stuttgart über den Albaufstieg am Aichelberg, Kufstein und die Brennerautobahn bis nach Bozen in Südtirol. „Trotz der anspruchsvollen Topografie bewältigte der E-Lkw die 530 Kilometer lange Strecke komplett ohne Zwischenladen und kam nach etwa sieben Stunden Fahrt in Bozen an“ teilen die Stuttgarter mit.

Nach einem Ladevorgang seien die Ingenieure die Heimfahrt – erneut ohne Zwischenladen und mit rund 40 Tonnen – angetreten. Das Fazit: Der voll beladene eActros 600 hat insgesamt über 1.000 Kilometer mit einem Ladestopp zurückgelegt.

6 Kommentare

zu „Probefahrt mit dem eActros 600 Prototyp im Tarnkleid“
Oskar Staudenmaier
06.10.2023 um 07:32
Was wiegt er Leer,wie viel Tonnen kann er laden.
Martin
06.10.2023 um 07:44
Schön, wenn Lkws endlich leiser und umweltfreundlicher werden.Was die 80 km/h angeht, so musste ich herzlich lachen. Ich fahre auf der A6 immer so mit 95 km/h (GPS) hinter den Lkws hinterher und dabei überholen mich dann häufig andere Lkws sehr zügig. Aber schön, wenn der digitale Fahrtenschreiber ja nicht manipuliert werden kann und alle Lkws abgeriegelt sind. :D
Gregor
06.10.2023 um 11:20
Sehr toller Bericht. Wenn man die Parameter ließt, dann kann Tesla seinen Semi noch eine Weile weiter verzögern. Die etablierten Hersteller haben 1. die Kundschaft und 2. die fertigen Fahrzeuge. Der Aufwand auf e Umzurüsten sollte geringer sein, als komplett neu zu entwickeln.Wobei ich die Reichweite überzogen finde. Nach 4.5h müsste man so oder so Pause machen.
Thomas
07.10.2023 um 08:59
Wenn man jetzt noch vom europäischen Schrankwand-Design weggehen würde, wäre noch einiges mehr in Richtung Effizienz möglich. Die neuen EU-Regularien machen ja mittlerweile ein anderes Design möglich. Wie viel eine aerodynamische Kabine ausmacht, sieht man am Tesla Semi.
ePeter
08.10.2023 um 16:45
Bei 80 km/h sind keine nennenswerten Aerodynamik-Vorteile zu erwarten
Philipp
10.10.2023 um 08:31
Auch bei 80 km/h macht es absolut Sinn. Man spricht von einem durchschnittlichen Leistungsbedarf eines (Verbrenner)Lkw in der Ebene von 100 PS. Das wären 73 kW Dauerleistung, also auf der 4,5-Stunden-Tour 330 kWh. Wenn sich dieser Wert um 20 % verbessern würde, wäre das eine Ersparnis von 66 kWh. Am 350 kW-Lader braucht man dadurch 11 Minuten weniger.

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