nio el6 fahrbericht robin engelhardt 2024 20 min
Bild: Johannes Schleicher
FahrberichtAutomobil

Nio wird erwachsen: Der EL6 im Test

Vier Jahre nach dem ersten ES6 hat Nio eine Neuauflage des SUVs vorgestellt – den EL6 (der Wechsel von „S“ zu „L“ war einem Rechtsstreit mit Audi geschuldet). Seit Jahresende 2023 wird dieser in Deutschland ausgeliefert, wir hatten nun die Gelegenheit, ihn für zwei Wochen intensiv zu testen.

Die Abmessungen sind nahezu unverändert, in der Länge von 4,85 Meter hat sich nur die dritte Nachkommastelle geändert, die Breite ist um drei Zentimeter gewachsen (jetzt 1,99 Meter ohne Spiegel), genau so viel hat er in der Höhe verloren – die liegt nun bei immer noch stattlichen 1,70 Metern.

Dementsprechend ähnlich sind auch Form und Proportionen, auffälligste Änderung ist das nachgeschärfte Lichtdesign, insbesondere in den Heckleuchten sowie die LiDAR-Sensoren, die nun auf dem Dach thronen. Außerdem ist die Ladeklappe von vorne links nach hinten links gewandert und die Radhäuser sind nicht mehr so eckig.

Durchdachter Innenraum

Auch innen scheint es optisch zunächst, als hätte sich wenig getan, denn es dominiert weiterhin die aufgeräumte und schnörkellose Optik. Tatsächlich findet man bei genauerem Hinsehen aber jede Menge Verbesserungen und insbesondere bei der Qualität deutliche Fortschritte. Das beginnt bei der hervorragenden Verarbeitung, geht mit der guten Materialauswahl weiter und endet bei der Liebe zum Detail, die man dem Fahrzeug an jeder Ecke anmerkt. Egal wo man die Oberflächen berührt, draufdrückt oder -klopft: „Da scheppert nix!“

Clevere Features

Besonders hervorgehoben hat sich die Liebe zum Detail, die an vielen Stellen sichtbar wurde. Da ist beispielsweise die Fußstütze im Beifahrersitz, dank der dieser in ein bequemes, fast flaches Bett verwandelt werden kann. Oder das Zusatzdisplay im Fond, mit dem auch die Passagiere hinten viele Funktionen steuern können. Wirklich durchdacht ist die Schlüsselkarte, die man so auch von Tesla kennt, die bei Nio aber gleichzeitig auch als Ladekarte funktioniert. Die hinteren Sitze lassen sich im Verhältnis 60:40 elektrisch in ihrer Neigung verstellen und trotzdem noch mechanisch flach umlegen für mehr Stauraum. Die Türen hüpfen einem bereits entgegen, wenn man die ausgefahrenen Griffe nur berührt, ohne dass man daran ziehen muss. Ebenfalls berührungsempfindlich ist das Lenkrad, das auch ohne starke Lenkbewegungen erkennt, dass Fahrer oder Fahrerin noch aufmerksam bei der Sache sind.

Die Softclose-Automatik zieht die Türen auch dann ins Schloss, wenn man sie nicht ganz zumacht, auch bei hohen Geschwindigkeiten ist der Wagen wirklich beeindruckend leise und die Sitze mit Heizung, Kühlung und Massage laden ein, nie wieder auszusteigen. Standardmäßig werden nur Fahrer und Beifahrer durchgeknetet, gegen Aufpreis gibt es das Wellness-Programm auf allen Sitzen.

Software: Wo ist Nomi?

Apropos Aufpreis: Die Sprach-Assistentin Nomi ist immer noch im System integriert, wer aber weiterhin die knuffige Kugel mit den süßen Augen und den lustigen Dance-Moves haben möchte, muss sie jetzt im Konfigurator explizit auswählen und dafür 750 € Aufpreis zahlen. Ab Werk ist anstelle des Gesichts jetzt nur noch eine Plastik-Abdeckung im Stil einer Amazon-Alexa ins Armaturenbrett eingelassen, deren Leuchtring während einer Interaktion blinkt und flackert. Funktionieren tut die Assistentin trotzdem weiter wie gewohnt: Sie versteht fast alle Kommandos, kann Routen planen, Einstellungen ändern und Scheinwerfer an- oder ausschalten. Zwei Fähigkeiten fehlen Nomi allerdings noch: Per Sprache einen Song im Musikstreaming suchen kann sie nicht und auch mit Umgangssprache tut sie sich schwer, man muss schon wirklich genau die Wörter benutzen, die die Programmierer vorgesehen haben.

Erfreulich sind die Fortschritte bei der Software im Allgemeinen: Das Navi ist jetzt wirklich brauchbar geworden, auch Grundzüge eines Ladeplaners sind jetzt vorhanden (gerade die SoC-Prognose ist aber noch etwas „holprig“), viele Menüs wurden besser strukturiert und die Übersetzungsfehler sind weniger geworden. Erstmals konnten wir auch die Smartphone App testen, die sich leicht verbinden lässt und alle wichtigen Features dabei hat (Schlüssel, Ortung, Vorkonditionierung von Innenraum und Batterie, etc.). Selten bleibt noch Luft nach oben (z.B. beim Verbrauchszähler, der immer nur die letzten 100 Kilometer erfasst), unterm Strich ist Nios aktuelles Infotainmentsystem besser geworden als beim einen oder anderen Wettbewerber.

Verbrauch: So stattlich wie das Auto

Ein Verbrauchswunder haben wir nicht erwartet, denn mit 1,70 Metern Höhe, Allradantrieb, 360 kW Systemleistung und 700 Nm Drehmoment ist der Wagen nicht gerade auf Effizienz getrimmt.

Was dann während der Autobahntests auf dem Stromzähler stand, hat uns dennoch überrascht. Je nach Witterungsbedingungen (niedrigste Temperatur im Test war knapp unter null, die höchste bei 15 °C) stehen bei konstant gefahrenen 130 km/h mindestens 24,8 kWh und höchstens 29,5 kWh pro 100 Kilometer auf der Uhr. Das ist, selbst für ein großes und schweres Auto, zu viel. Mit dem großen Akku (100 kWh brutto, etwa 90 kWh netto) entspricht das nur knapp über 300 Kilometern Praxisreichweite bei normaler Fahrweise auf der Autobahn – das ist zu wenig.

Fokus auf Gemütlichkeit

Positiv schlägt er sich dagegen in der Stadt, wo wir den Wagen auch leicht deutlich unter 20 kWh/ 100 km bewegen können, das geht in Ordnung. Dennoch: Für ein Auto, dass in Sachen Abmessungen, Komfort und Features klar auf die Langstrecke zielt, sind die Motoren zu verbrauchsintensiv.

Richtig schnell gefahren sind wir natürlich auch – aber nur kurz, denn bei den abgeriegelten 200 km/h explodiert der Verbrauch derartig, dass man der Batterieanzeige beim Fallen zuschauen kann. Was aber weder verwunderlich ist, noch problematisch: Außerhalb Deutschlands fährt ja niemand auf öffentlichen Straßen so schnell.

Dass der EL6 eher nicht für Vollstrom-Fahrten geeignet ist, merkt man auch am relativ weichen Fahrwerk und der synthetischen Lenkung, die Komfort klar höher priorisieren als Sportlichkeit – was für bequemes Fahren durchaus positiv ist. Dazu passt auch der fürstliche Platz im Fond, mit dem Nio einmal mehr klar macht, dass ihre Kunden im Auto wohl eher hinten rechts als vorne links sitzen.

Schneller Laden

Wirklich flott sieht es dagegen mittlerweile bei der Ladeperformance aus, die deutlich nach oben geschraubt wurde. Die maximale Ladeleistung liegt jetzt bei 185 kW, von 3 auf 80 % lädt der EL6 in 26 Minuten. Die Batterie lässt sich wahlweise automatisch, basierend auf der Routenplanung vorheizen, oder per Knopfdruck auch manuell.

Auch das Swapping funktioniert, wie schon von anderen Nios gewohnt, wirklich einfach: Wagen im markierten Feld vor der Wechselstation parken, dann läuft der Rest alleine. Autonomes Einparken in die Wechselstation, Anheben des Fahrzeugs, leere Batterie raus, volle Batterie rein, Hebebühne wieder herunterlassen und rausfahren – fertig. In vier Minuten und 18 Sekunden ist das ganze Schauspiel erledigt und es kann wieder weitergehen, konkurrenzlos schnell zum konventionellen Laden. Allerdings: Wechselstationen gibt es in Deutschland aktuell nur 14, jede hat meistens eine einstellige Anzahl an Batterien vorrätig – für die breite Masse reicht diese Infrastruktur aktuell noch nicht aus. Geplant ist aber ein Ausbau auf 40 Stationen, sofern die ausreichend Batterien vorrätig haben, kann das durchaus funktionieren. Das größte Hemmnis beim Batteriewechsel waren in unserem Test vor allem die restriktiven Öffnungszeiten, zwischen 17:00 und 19:00 Uhr machten die Wechselstationen Feierabend, auch am Wochenende. So konnten wir deutlich seltener swappen, als eigentlich geplant war. Diesen Schwachpunkt hat Nio allerdings relativ kurzfristig abgeräumt, seit Anfang April sind alle Swap Stations von 07:00 bis 22:00 Uhr geöffnet, was das Angebot deutlich praxistauglicher macht.

nio el6 fahrbericht robin engelhardt 2024 07 min
Bild: Johannes Schleicher

Ziemlich ärgerlich fanden wir das Leistungslotto: Da Nio zwei Versionen seiner Long Range Akkus hat (einen mit 180 kW Ladeleistung und einen mit 125 kW Ladeleistung) kann man nach einem Swap nicht wissen, ob der nächste Ladevorgang wie in unserem Fall in Bestzeit erreicht werden kann, oder deutlich länger dauern wird.

Laden oder Swappen?

Der Akkuwechsel funktioniert technisch hervorragend. Schnell, bequem, einfach. Das Risiko, sich einen Akku mit schlechterer Ladeleistung einzuwechseln, bleibt aber ein handfester Nachteil des Batteriewechsel.

So ist aus praktischer Sicht für viele Anwender das konventionelle Laden wohl (noch) die sinnvollere Option, preislich ist dagegen das „Swapping“ ziemlich attraktiv, da es nur mit Batteriemiete nutzbar ist. Diese reduziert den Kaufpreis der Long Range Version von 74.500 € auf 53.500 € inkl. MwSt., dafür kommt eine monatliche Batteriemiete von 289 € on top. Heißt: Der Batteriekauf ist erst ab dem sechsten Jahr finanziell attraktiver. Für alle, die den Wagen kürzer halten wollen, lohnt sich das „Battery as a Service“-Modell. Dabei sind zwei Swaps pro Monat inklusive, ab dem Dritten werden 10 € Service-Gebühr fällig. Der dabei mit erworbene Strom wird an jeder deutschen Station mit 39 Cent pro kWh verrechnet, ein sehr fairer Preis, der deutlich unter vielen DC-Stromtarifen liegt und mancherorts sogar nahe an Hausstrompreisen.

Assistenten: Ausbaufähig

Wirklich verblüffend war die durchwachsene Performance der Assistenzsysteme. Der Nio Pilot lenkt den Wagen ganz brauchbar, ist aber immer hin und wieder unsicher, wo genau die Fahrspurmitte liegt und pendelt deswegen zwischen den Spurrändern, auch „Rettungsgasse“ ist nach wie vor ein Fremdwort. Immerhin: Automatische Spurwechsel beherrscht das System mittlerweile. Als Entlastung des Fahrers ist der Nio Pilot ein nützliches Feature, vergleicht man seine Performance aber mit der Menge an Informationen, die er laut Display über seine Sensor-Armada erfasst, gibt es scheinbar noch ordentlich Luft nach oben bei der Umsetzung der gesammelten Daten in eine flüssige Fahrweise.

Fazit: Wahrscheinlich das beste Preis-Leistungsverhältnis im Premiumsegment

Bessere Verarbeitungsqualität, ausgereiftere Assistenten, höhere Ladeleistung – mit dem EL6 geht Nio in vielen Disziplinen einen guten Schritt nach vorne.
„Günstig“ wäre eine falsche Umschreibung, denn 80.500 € für die Vollausstattung sind nicht wenig Geld. Vergleicht man den EL6 aber mit anderen leistungsstarken Premium-SUVs, z.B. dem BMW iX oder dem Mercedes EQE, ist der Nio der klare Preis-Leistungssieger. Die beiden genannten deutschen Konkurrenten reißen schon die 100.000 €-Grenze, wenn man eine zum Nio ebenbürtige Motorisierung mit 4 bis 5 Sekunden für 0-100 km/h wählt. Mit ein bisschen Ausstattung (zur Erinnerung: Headup-Display, Softclose-Türen oder Matrix-Licht hat der EL6 schon in der Basis-Variante an Bord) kommt man bei einem deutschen Fahrzeug schnell in Richtung 120.000 €. Und vor diesem Hintergrund wirkt der EL6 mit „nur“ 80.500 € dann doch fast schon wie ein Schnäppchen.

Klar, ein Mercedes EQE hat noch Feinheiten wie eine Hinterachslenkung, der BMW iX liegt viel besser auf der Straße und beide haben bessere Ladeleistungen, aber das lassen sich die Schwaben und Bayern eben auch fürstlich bezahlen.

So zeigt der EL6, stellvertretend für alle Nio Modelle, was chinesische Autobauer aktuell am besten können: Ein sehr gutes Preis-Leistungsverhältnis anbieten. Wenn sie jetzt noch an der einen oder anderen Stelle die verbleibenden Schwachpunkte ausmerzen, muss sich die deutsche Konkurrenz warm anziehen.

1 Kommentar

zu „Nio wird erwachsen: Der EL6 im Test“
Peter Hummel
16.04.2024 um 22:15
In der Hoffnung, dass Nio hier mitliest kann ich nur bekräftigen, dass die Verbrauchsanzeige noch stark verbesserungsfähig ist. Bitte mal bei Tesla nachschauen wie man das macht. Mindestens 1, besser 2 zurücksetzbare Trips mit Verbrauch/100km.

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