„Kein Versuchsträger, sondern Serienprodukt“: Autonomer E-Bus in Stavanger im Linieneinsatz

Der türkische Bushersteller Karsan hat zusammen mit der Verkehrsbehörde Kolumbus in Norwegen die nächste Stufe beim hochautomatisierten Fahren im ÖPNV erreicht: In der Stadt Stavanger fährt ein e-Atak im regulären Linieneinsatz nach Level 4 auf öffentlichen Straßen.

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Zur Indienststellung kamen Okan Baş, geschäftsführendes Vorstandsmitglied von Karsan, Edith Kristin Nøkling, die die Geschicke bei Kolumbus verantwortet, und Jon-Ivar Nygård, der norwegische Verkehrsminister. Alle drei machten keinen Hehl daraus, dass so eine Europapremiere etwas Besonderes sei: Baş erklärte, dass der hochautomatisierte e-Atak kein Versuchsträger, sondern schon ein Serienprodukt sei. Und Nøkling machte deutlich, dass man bei Kolumbus schon jetzt die Zukunft erfahre. Ganz konsequent sei der Schritt hin zum Fahren ohne Fahrer, wie Nygård sagte.

Die Freude über die Europapremiere sieht man dem Verkehrsminister an, passt doch die Indienststellung eines E-Linienbusses nach Level 4 gut zu einem Land, das im wahrsten Sinne unter Strom steht. Während die Umstellung auf Elektroautos in Deutschland langsam an Tempo gewinnt, ist sie in Norwegen in vollem Gang. Im gesamten vergangenen Jahr lag der Marktanteil der reinen E-Autos dort schon bei fast 65 Prozent. Der größte Teil des norwegischen Stroms stammt aus Wasserkraft, der Ökostrom ist billiger als fossile Brennstoffe wie Benzin und Diesel. Den Norwegern wird es aber auch einfach gemacht, landesweit ist die zwingend benötigte Ladeinfrastruktur vorhanden – nicht nur in den großen Städten.

Dabei wollte eigentlich Deutschland weltweit beim autonomen Fahren der Vorreiter werden. Nachdem das Bundesjustizministerium einen Gesetzesentwurf zum autonomen Fahren auf Level 4 vom ehemaligen Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer im Januar 2021 abgelehnt hatte, brachte sein Nachfolger Volker Wissing im Februar 2022 eine neue Rechtsverordnung auf den Weg.

Einen Schritt weiter ist man jetzt in Norwegen, hier fährt in Stavanger ein autonomer Elektrobus nach Level 4 offiziell auf der Linie. 2,5 Kilometer misst die Linie im Herzen der Stadt, die der e-Atak von Karsan befährt. Nicht auf einer abgesperrten Strecke, sondern auf einer öffentlichen, die sogar noch eine Fahrradspur hat.

Schon vor zwei Jahren hat man sich bei Kolumbus, der verantwortlichen Behörde für die Planung, Vermarktung und Organisation des öffentlichen Verkehrs in Rogaland, entschieden, auf hochautomatisierte Elektrobusse zu setzen. „Dann wurde in einem gemeinsamen Miteinander das Ziel verfolgt, dies kurzfristig umzusetzen“, so Edith Kristin Nøkling. Auf der weltweiten Suche nach einem entsprechenden Fahrzeug sei man auf den türkischen Bushersteller Karsan aufmerksam geworden, nicht nur das Technische, sondern auch die Gefäßgröße passte zu den Vorstellungen.

52 Fahrgäste können im acht Meter langen e-Atak maximal mitfahren. Aktuell ist es aber so, dass ein Sitzplatz pro Fahrgast und das Sitzen während der Fahrt für die dann möglichen 21 Passagiere vorgeschrieben ist, auch die Norweger haben beim Einsatz neuer Technologien das Wohl der Fahrgäste im Blick. Das hat Vorteile, wie sich bei der Premierenfahrt zeigte: Weil gleich mehrere Kreuzfahrtschiffe im Hafen von Stavanger lagen, säumten unzählige Touristen nicht nur die Bürgersteige, sondern traten auch immer wieder mehr oder weniger unbeabsichtigt auf die Straße.

Die künstliche Intelligenz erkennt die Passanten, die plötzlich auf die Straße treten und stoppt dann den hochautomatisierten Elektrobus. Mitunter etwas abrupt – stehende Fahrgäste hätten hier das Nachsehen. Ansonsten bewies der Midi-Elektrobus, der mit Adastecs „Flowride.ai Level-4“- Software fährt, dass die Beteiligten ihre Hausaufgaben gemacht haben.

Ob Kreisverkehr, das Anfahren am Berg samt Kurvenfahrt oder die üblichen Aufgaben wie das Anhalten und Abfahren von Haltestellen, selbst das Überqueren von Kreuzungen meisterte der e-Atak selbstständig und zuverlässig. Sogar neben Fahrradfahrern oder anderen Fahrzeugen bewegt sich das Fahrzeug souverän.

Dafür greift die künstliche Intelligenz beispielsweise auf LiDAR-Sensoren, die sich an verschiedenen Stellen des Fahrzeugs befinden, oder auch auf Wärmebildkameras zurück. Adastec hat dafür eine modulare Software für automatisiertes Fahren entwickelt und um eine Backoffice-Plattform ergänzt.

Das Programm von Adastec steuert alle Aspekte des automatisierten Betriebs des Busses durch eine integrierte, fehlertolerante Reihe von Sensoren und HD-Maps, bei denen verbesserte Sensorfusion und Deep-Learning-Techniken eingesetzt werden. Eine cloudbasierte Plattform unterstützt die Einsatzsteuerung, das Flottenmanagement und den Datenaustausch über APIs.

Während die verschiedenen Kameras und Sensoren deutlich am Fahrzeug zu erkennen sind, ist die künstliche Intelligenz kaum zu sehen: Hinter der Rücksitzbank befindet sich hinter zwei Sitzen eine graue Box, die die Hardware, die vier Recheneinheiten, die von NVIDIA GPUs angetrieben werden, aufnimmt. Das System ist in die gesamte elektronische Infrastruktur des Busses integriert und erhält nahezu 100 verschiedene Sensormesswerte. Abhängig von den Einsatzanforderungen bietet Karsan zusammen mit Adestec dem Betreiber entsprechende Fernsteuerungs- und V2X-Optionen. Bus-ITS-Systeme wie Bildschirme oder Fahrgastzählung wurden ebenfalls integriert, um die Level 4-Automatisierung mit noch mehr Daten weiter zu perfektionieren.

Anlässlich der Indienststellung in Norwegen machte Karsans geschäftsführendes Vorstandsmitglied Baş deutlich, dass der in Stavanger in Dienst gestellte hochautomatisierte e-Atak nach Level 4 kein Einzelstück sei. Weitere Fahrzeuge stünden bereits kurz vor der Auslieferung und Karsan baue sie in einer Kleinserie. Und auch Deutschland sei für ihn ein Markt, den man bedienen könne. Hierzu müsste die Politik nur den entsprechenden Rahmen schaffen.

Mit der Zustimmung des Bundesrats zu der „Verordnung zur Regelung des Betriebs von Kraftfahrzeugen mit automatisierter und autonomer Fahrfunktion und zur Änderung straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften“ können nun in Deutschland bald Fahrzeuge mit autonomer Fahrfunktion zum sogenannten Regelbetrieb auf eigens dafür ausgewiesenen Strecken zugelassen werden. Neben den technischen Vorschriften ist Kern der Rechtsverordnung die Regelung des Verfahrens über die Zulassung von Kraftfahrzeugen mit autonomer Fahrfunktion zum Straßenverkehr. Um den Regelbetrieb dieser Fahrzeuge im öffentlichen Straßenverkehr in festgelegten Betriebsbereichen zu ermöglichen, sollen keine singulären technischen Ausnahmegenehmigungen des jeweiligen Bundeslands erforderlich sein.

Der Beschluss soll den Weg für die rasche Entwicklung von automatisierten Fahrfunktionen ebnen und einen künftigen Regelbetrieb im öffentlichen Straßenverkehr ermöglichen, so die Hoffnung der Politiker. Der erste Schritt dürfte dann eine Inbetriebnahme von autonomen Fahrzeugen auf Level 4 in „festgelegten Betriebsbereichen“ sein. Beim autonomen Fahren auf Level 4 kann das Fahrzeug ohne menschliche Kontrolle vollautomatisiert fahren. Eine Person im Auto oder eine externe technische Aufsicht wird bei Beendigung des autonomen Modus zur Kontrollübernahme über das Fahrzeug aufgefordert. Erhält das System keine Reaktion, hält das Fahrzeug selbstständig am Straßenrand an.

„Dass autonome Fahrzeuge bei uns künftig im normalen Straßenverkehr teilnehmen können, ist weltweit einmalig und war ein enormer Kraftakt. Aber gerade mit diesen detaillierten Erfahrungen bei der Entwicklung des Rechtsrahmens und dessen Umsetzung, können wir einen wesentlichen Beitrag für die weitere Arbeit auf internationaler Ebene leisten“, so der deutsche Verkehrsminister Volker Wissing.

Hochautomatisierte Omnibusse unterschiedlicher Gefäßgrößen werden die zukünftige Mobilität mitbestimmen. Und sie werden auch die ländlichen Räume, die derzeit vom ÖPNV sogar fast ganz abgeschnitten sind, besser erschließen. Aber nicht nur da werden sie ihre Vorteile ausspielen. In den USA lässt Waymo in Phönix erste Roboterautos als Taxis fahren – und das zum Teil auch ohne Sicherheitsfahrer hinter dem Lenkrad. Fahrgäste können ihre Fahrt per App bestellen und werden dort abgeholt, wo sie sich gerade befinden. Auch wenn dies vorerst nur in den Vororten von Phönix stattfindet, das Angebot auszuweiten, sei kein Problem, wie es aus Amerika heißt.

Das Potential des Marktes dort hat auch Karsan erkannt: Ein weiterer hochautomatisierter e-Atak ist schon an die US-amerikanischen Michigan State University ausgeliefert worden. Er fährt auf dem Campus als Vollzeit-Shuttleservice und wird für die Beförderung von Studenten, Mitarbeitern und Dozenten der Universität eingesetzt.

Autor: Rüdiger Schreiber

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