Kia Niro EV: Wo die zweite Generation aufholen kann – und wo nicht

Eine neue Karosserie, aber fast die gleiche Antriebstechnik – so könnte man die zweite Generation des vollelektrischen Kia Niro kurz zusammenfassen. Fortschritte gibt es vor allem im Detail. Aber reicht das aus, um im Jahr 2023 noch zu überzeugen?

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Seit Ende 2018 hatte Kia mit dem e-Niro ein kompaktes Elektroauto im Programm, das trotz seiner Misch-Plattform durchaus mit Platz und Effizienz überzeugen konnte. Ein kleines Manko war vielleicht der Hartplastik-dominierte Innenraum und die Staub-anziehenden Hochglanz-Oberflächen – das war nicht jedermanns Sache.

Die Eckdaten zu der zweiten Generation haben wir schon zu seiner Vorstellung und der ersten, kurzen Testfahrt rund um Frankfurt im vergangenen Jahr ausführlich beschrieben. Daher hier nur die Kurzform: Die Karosserie ist sieben Zentimeter länger geworden und misst jetzt 4,42 Meter. Die an der Vorderachse montierte Permanentmagnet-Synchronmaschine leistet weiterhin 150 kW. Neu ist, dass das maximale Drehmoment bei 255 Nm gekappt wird – zuvor waren es 390 Nm. Einen Einfluss auf die Fahrleistungen hat diese Entscheidung der Entwickler nicht, der Niro EV beschleunigt wie sein Vorgänger in 7,8 Sekunden aus dem Stand auf 100 km/h. Und der Akku kommt nach dem Wechsel von SK On zu CATL als Zelllieferant auf 64,8 statt 64 kWh. Die WLTP-Reichweite steigt nur minimal von 455 auf 460 Kilometer.

Also außer Spesen nichts gewesen bei der Entwicklung des neuen Niro EV? Nicht ganz, denn zum einen sind Karosserie und Innenraum komplett neu (gleich dazu mehr), zum anderen wurde der E-Antrieb im Detail verbessert. Zugegeben, die 255 statt bisher 390 Nm Drehmoment wirken auf dem Papier wie ein Rückschritt und so manch einer wird den spontanen und kraftvollen Antritt eines E-Autos etwas vermissen, was im Niro EV nun etwas gedämpfter stattfindet. Aber: Der Niro EV geht komfortabler und kultivierter ans Fahrpedal. Und die Vorderreifen sollen deutlich länger halten.

Ein weiterer Punkt: Wie der große Bruder EV6 und etwa auch der Hyundai Ioniq 5 verfügt der Niro EV jetzt über eine Batterie-Vorkonditionierung. Die DC-Ladeleistung gehörte zwar noch nie zu den Stärken des Niro, aber mit der Vorkonditionierung soll wenigstens die überschaubare Ladeleistung unter möglichst vielen Bedingungen genutzt werden können. Kurz gesagt bringt das System die Batterie vor einem Schnellladevorgang in das optimale Temperaturfenster, damit die Zellen in ihrem Wohlfühl-Bereich sind und das Batteriemanagement die für den jeweiligen Ladestand bestmögliche Ladeleistung freigeben kann – so die Theorie.

In der Praxis ist das System bei Hyundai-Kia mit einer Herausforderung versehen, die wir bereits kürzlich bei dem Test des aktuellen Hyundai Ioniq 5 ausführlich beschrieben haben: Bei den Koreanern ist die Batterie-Vorkonditionierung an das eigene Navigationssystem gebunden: Das Auto temperiert die Batterie nur dann vor, wenn eine im System hinterlegte Schnellladesäule als (Zwischen-)Ziel bei der Routenführung hinterlegt ist. Wer sich gerne von anderen Apps per Apple CarPlay oder Android Auto ans Ziel führen lässt oder an einer neuen, noch nicht im System hinterlegten Säule laden will, muss auf die neue Funktion verzichten. Dazu kommt: Die Art und Weise, wie ein solcher Ladestopp mehr oder weniger manuell zur Route hinzugefügt werden muss, ist nicht intuitiv und benötigt vor allem ein gewisses Vorwissen über die Ladesäulen in der Nähe oder entlang der Route. Denn wie bei anderen Herstellern oder speziellen EV-Routenplaner-Apps automatisch eingeplant werden die Ladestopps nicht.

Halbe Stunde Batterie-Vorheizen reicht nicht aus

Mit etwas Übung vom erst kurz zuvor gefahrenen Ioniq 5 und dem Wissen über die bekannten HPC-Anlagen in der Umgebung haben wir einen Standort mit sechs 300-kW-Hyperchargern angesteuert. Im Vorfeld war die Batterie-Vorkonditionierung recht genau 30 Minuten aktiv, zu erkennen an einem kleinen Spulen-Symbol auf dem Cockpit-Display.

Zugegeben, es war keine Langstrecke, auf die wir mit vollem Akku gestartet sind und für die wir nach 2,5 Stunden den ersten Ladestopp eingeplant hatten. Sondern wir sind mit etwa 30 Prozent losgefahren, um eben jene halbe Stunde bis zur gewünschten Ladesäule zu fahren. Wie sich herausgestellt hat, hätte das System bei vier Grad Außentemperatur wohl etwas länger gebraucht, um die Batterie ausreichend zu erwärmen. Denn wie die folgende Grafik zeigt, haben wird mit der hellblauen Linie besonders bei niedrigem Ladestand die optimale Ladekurve verpasst – vermutlich, weil die Batterie zu kalt war.

Nach einem kurzen Peak bei 15 Prozent State of Charge (SoC) mit 73 kW pendelte sich die Ladeleistung an dem Hypercharger bei zunächst 53 und später bei 63 kW ein – in einem Bereich, in dem die Ladeleistung eigentlich noch bei etwa 75 kW liegen sollte. Ab ungefähr 43 Prozent SoC entsprach aber auch unsere Ladekurve bei vier Grad recht genau dem, was mit dem Akku möglich ist.

Soll heißen: Wir haben einige Minuten bei der Ladedauer verloren, was aber wie erwähnt wohl auf unsere nur halbstündige Anfahrt zum Ladestopp zurückzuführen ist. Am Ende hat der Test-Ladevorgang von 14 auf 81 Prozent stolze 50 Minuten gedauert. Dabei sind laut Ladesäule 45 kWh geflossen, was 53,5 kW Ladeleistung im Schnitt macht. Die Werksangabe von zehn auf 80 Prozent liegt bei 41 Minuten, was bei höheren Außentemperaturen auch ohne die komplizierte Vorkonditionierung über das Navi möglich ist.

Aber: Wie lange der Ladevorgang bei vier Grad ohne Vorkonditionierung gedauert hätte oder wie die Ladekurve bei zum Beispiel -10 Grad ausgesehen hätte, lässt sich aus unserem Test nicht ableiten. Für derartige Messungen gab es in unserem Test (leider) keine Möglichkeiten.

Der Abstand zum EV6 ist zu groß

Über 1.170 Kilometer zeigte der Bordcomputer einen Verbrauch von 19,4 kWh/100km an, die jedoch vorrangig auf der Autobahn und bei einstelligen Temperaturen gefahren wurden. Daher ist der Verbrauch und die daraus resultierende Reichweite von 334 Kilometern in Ordnung. Auf einzelnen Autobahn-Etappen stieg der Verbrauch auf bis zu 23,5 kWh/100km (entspricht 275 Kilometern Reichweite), auf städtischen Kurzstrecken waren mit 14,3 kWh/100km rechnerisch etwa 450 Kilometer Reichweite möglich – und das im erwähnten Temperaturbereich! Einen Indikator für die Reichweite bei sommerlichen Temperaturen bietet der Test-Verbrauch von unserer ersten Ausfahrt im Niro EV aus dem vergangenen Juli: Mit 12,7 kWh/100km wären fast 500 Kilometer möglich.

Dass Kia bei der Ladedauer sein E-Auto-Portfolio aufteilt und bewusst etwas Platz zum 800-Volt-Modell EV6 lässt, ist durchaus verständlich – mit Preisen ab 46.990 Euro ist der Basis-EV6 mit der 58-kWh-Batterie und 18 Minuten (theoretischer) Ladedauer sogar etwas günstiger als der Niro EV (derzeit ab 47.590 Euro). Die Lücke ist aber etwas zu groß geraten, denn 41 Minuten im Bestfall sind im Jahr 2023 einfach nicht mehr wettbewerbsfähig. 100 kW in der Spitze und etwa 30 Minuten Ladedauer wären wohl angebrachter. Der Niro EV ist zwar gut ausgestattet (gleich dazu mehr), aber eben auch recht teuer – einem Preisbrecher würde man Abzüge bei der Ladeleistung wohl noch eher verzeihen. So passt der Niro EV mit seiner Ladekurve aber nicht zu jedem Fahrprofil, was die potenzielle Zielgruppe einschränkt. Denn selbst wenn die Reichweite für 95 Prozent der Fahrten (gerade in Kombination mit einer eigenen Wallbox) genügt, werden sich Interessenten gut überlegen, ob sie selbst bei gelegentlichen Langstrecken-Fahrten angesichts des wachsenden Modellangebots zum Niro EV greifen.

Und das ist schade, denn das Auto an sich ist gut gelungen! Mit dem Generationswechsel haben die Koreaner viele Punkte verbessert. Das Ambiente im Innenraum ist zum Beispiel kaum mit dem Vorgänger zu vergleichen. Die neue Generation ist durchgestylt, vieles erinnert (wenn auch in etwas kleinerer Form) an den EV6 statt an den alten e-Niro. Die beiden 10,25 Zoll großen Displays und die Touch-Leiste unter dem Infotainment-Display sind aus dem großen Bruder bekannt. Dabei handelt es sich um das übliche System von Hyundai-Kia mit seinen bekannten Stärken und Schwächen.

Die Mittelkonsole ähnelt auch dem Design des EV6 mit schwarzem Glanzlack und dem Drehregler zur Wahl der Fahrstufe – die großen Hochglanz-Flächen muss man allerdings mögen, sie ziehen Staub und Fingerabdrücke förmlich an. Ein kleiner Unterschied: Funktionen wie die Sitz- und Lenkradheizung werden im Niro EV über konventionelle Tasten anstatt flächenbündiger Touchfelder gesteuert – das ist günstiger, in der Funktionalität aber nicht schlechter. Im Gegenteil, man kann sie deutlich besser blind bedienen.

Touch-Leiste ist weder Fisch noch Fleisch

Das ist auch das Stichwort für einen persönlich großen Kritikpunkt: die Bedienbarkeit der Touch-Leiste. Ich habe mit dem EV6, dem Niro PHEV und nun dem Niro EV schon einige Zeit in Kia-Modellen mit diesem neuen Feature verbracht. Wirklich warm geworden bin ich in all der Zeit im Fahrer- und Beifahrersitz mit der Lösung, die Infotainment- und Klimaanlagen-Shortcuts in einer Einheit zu kombinieren, nicht. Zum einen kann man es nicht blind bedienen, da man auf der glatten Touch-Oberfläche nichts ertasten kann und auch sehr einfach die Schaltfläche daneben trifft, wenn man es doch mal blind versucht. Und man muss immer erst mit einem Blick checken, ob die Leiste gerade auf die Infotainment- oder die Klimasteuerung gestellt ist. Ich sehe das nicht dogmatisch, gegen eine gut gemachte Touch-Bedienung habe ich nichts. Aber diese Lösung ist weder Fisch noch Fleisch – gerade, wenn man bei der Lenkrad- und Sitzheizung wieder auf klassische Tasten umgestiegen ist. Im großen E-SUV EV9 gibt es die Touch-Leiste übrigens nicht mehr. Ob sich Kia grundsätzlich dagegen entschieden hat oder in dem Fünf-Meter-SUV mit entsprechend mehr Platz im Innenraum einfach die Fläche für eine Tasten-Lösung da war, ist aber nicht bekannt.

Pluspunkte sind hingegen die großen Ablagen in der Mittelkonsole, das durchdachte Design der Sitze mit den auffälligen Halterungen der Kopfstützen (die zugleich als Kleiderbügel dienen) und den integrierten USB-C-Buchsen, an denen die Passagiere auf der Rückbank ihre Devices laden können. Relax-Sitze wie im EV6 gibt es im Niro allerdings nur auf der Beifahrerseite – auf der Fahrerseite hat es laut Kia um wenige Zentimeter nicht gepasst.

Ordentliche Platzverhältnisse bei 4,42 Metern Länge

Die Konstruktion der Vordersitz-Lehnen ist zudem deutlich dünner, was vor allem die Beinfreiheit in der zweiten Reihe erhöhen soll. Eine erwachsene Person mit 1,85 Metern kann hinter einem gleich großen Fahrer bequem sitzen – allerdings sollte man dann eventuell die Easy-Entry-Funktion deaktivieren, damit der Fahrersitz nicht komplett nach hinten fährt, sobald das Fahrzeug in P steht. Dann könnte es schon eng werden. Wegen der im Unterboden platzierten Batterie ist die Rückbank im BEV im Vergleich zum Hybrid oder Plug-in-Hybrid 3,8 Zentimeter höher montiert. Das ist bei der ersten Ausfahrt im Juli nur im direkten Vergleich aufgefallen, ein unangenehmer Kniewinkel oder eine spürbar eingeschränkte Kopffreiheit für die Passagiere auf der Rückbank gibt es nicht.

Das Kofferraumvolumen des Niro EV gibt Kia mit 475 Litern an. Dieser Stauraum steht aber nur zur Verfügung, wenn man den Kofferraumboden in die tiefere Position absenkt – was mit einem Handgriff möglich ist. Der doppelte Boden kann zum Beispiel genutzt werden, um die Ladekabel oder den optionalen Vehicle-to-Device-Adapter (mit maximal 3,0 kW Ausgangsleistung) zu verstauen. Zudem gibt es kleine Ablagefächer hinter dem Radkasten, deren Tiefe aber keineswegs mit jenen im Tesla Model Y zu vergleichen ist. Der ebene Laderaum lässt sich gut nutzen, die leicht angewinkelte Heckscheibe kostet aber etwas Höhe.

Neu ist bei der zweiten Niro-Generation auch ein kleiner Frunk unter der Fronthaube. Dort passt (in gut aufgewickeltem Zustand) ein übliches Typ-2-Ladekabel hinein. Bei einem Nasenlader mit Ladeanschluss an der Front bietet es sich natürlich an, das Ladekabel im vorderen Bereich des Fahrzeugs griffbereit zu haben – und nicht erst unter dem eventuell beladenen Kofferraumboden das Kabel herauskramen zu müssen. Das ist (je nach Kunden-Vorlieben) ein großer Pluspunkt. Das Manko dabei: Es handelt sich um eine klassische Motorhaube mit der altbekannten Entriegelung, dazu hat der Frunk noch eine eigene Plastik-Abdeckung. Es ist also immer noch aufwändiger an das Ladekabel zu kommen als etwa in einem Tesla – wo die Fronthaube per Touchscreen oder App entriegelt und sofort ohne weitere Handgriffe geöffnet werden kann.

Basis-Ausstattung nach wie vor nicht in Sicht

Dass wir in diesem Fahrbericht den etwas umständlichen Zugang zum Frunk oder Detail-Lösungen wie die Touch-Leiste kritisieren, liegt auch an der Tatsache, dass der Niro an sich ein gelungenes Auto ist. Selbst bei den Fahrassistenzsystemen mit Autobahn-Assistent, automatischen Spurwechseln und dem Head-up-Display bietet das Fahrzeug sehr viel.

Andererseits muss man anmerken, dass man das dem Niro EV auch geraten haben will – weil mit dem bereits erwähnten Einstiegspreis vom 47.590 Euro ist er alles andere als günstig. Die vor rund einem Jahr angekündigte Basis-Ausstattung für 39.990 Euro hat Kia nach wie vor nicht im Angebot, es gibt den Niro EV aktuell nur in der Top-Ausstattung „Inspiration“. Selbst dann kosten aber noch einige der hier beschriebenen Funktionen Aufpreis. Die Wärmepumpe schlägt mit 1.000 Euro zu Buche, das P2-Paket (u.a. V2D-Adapter, Totwinkelassistent, Frontkollisionswarner und Autobahn-Assistent) mit 1.590 Euro, das P3-Paket (u.a. Head-up-Dispaly und Remote Parkassistent) steht mit 1.290 Euro in der Liste. Das P4-Paket (elektrisch verstellbare Vordersitze mit Memory-Funktion, Sitzheizung vorne und hinten, Sitzkühlung vorne und den Relax-Sitz für den Beifahrer) kostet 1.190 Euro, das Harman-Kardon-Soundsystem (offiziell als P5 Sound-Paket bezeichnet) 590 Euro und das P7-Designpaket mit der C-Säule in Stahlgrau Metallic weitere 290 Euro. Zusammen mit einer der optionalen Lackierungen (650 Euro) und Glasdach (offiziell als Paket P6 für 690 Euro) ergeben sich so 54.880 Euro. Damit bewegt sich der Niro EV in einem Preisumfeld, in dem bereits deutlich größere, leistungs- und reichweitenstärkere Fahrzeuge verfügbar sind – auch solche mit deutlich kürzeren Ladezeiten.

Fazit

Am Ende läuft es beim Niro EV auf drei Fragen hinaus: Kann ich zu Hause oder am Arbeitsplatz laden? Stören mich Ladestopps von 45 Minuten oder mehr? Und passt das Budget? Wenn man diese Fragen passend beantworten kann, kann man mit dem Niro EV glücklich werden. Ein Basis-Modell, das mit Wärmepumpe und Sitzheizung bereits für 42.000 Euro vor Förderung zu haben wäre, würde zumindest bei der dritten Frage die Zielgruppe deutlich erweitern. Denn für knapp 55.000 Euro mit Ausstattung gibt es sehr viele Modelle, die mit weniger Einschränkungen beim Schnellladen einhergehen.

1 Kommentar

zu „Kia Niro EV: Wo die zweite Generation aufholen kann – und wo nicht“
ChriBri
28.03.2023 um 14:38
Wegen der Ladeleistung indiskutabel… ich ärgere mich seit 65t km schon beim ID3 am Schnelllader mit der Faustformel 1 kWh = 1 min (58 kWh Akku)… aber der Kia schiesst echt den Vogel ab… wie richtig bemerkt: wer nur an der WB lädt, alles tiptop, ansonsten gibt es performantere Angebote (aus dem eigenen Haus)

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