
„Elektrische Effizienz ist der Hauptfaktor“ – Shunsuke Shigemoto über den neuen Nissan Leaf
Wer sich an die Ursprünge der Elektromobilität erinnert, der kennt den Nissan Leaf nur zu gut. Das Modell wurde im August 2009 in Yokohama präsentiert und gilt als das erste Großserien-Elektroauto, das von Anfang an als solches konzipiert wurde. Frühe Nutzer kennen aber auch die Einschränkungen in der Praxis: Beim wiederholten Schnellladen per CHAdeMO auf der Langstrecke wurde die Batterie heiß und die Ladeleistung wurde gedrosselt. Aus dem Schnell- wurde Schnarchladen – und der Begriff „Rapidgate“ war in der Welt.
Der neue Nissan Leaf der dritten Generation will diese Schwachstellen des einstigen Pioniers vergessen machen. Er baut auf 15 Jahren Erfahrung mit Elektroautos auf. Laut Shunsuke Shigemoto, Vice President ePowertrain Technology, Research and Advanced Engineering am britischen Entwicklungszentrum von Nissan in Cranfield, wurde der Leaf grundlegend weiterentwickelt, um sowohl E-Auto-Neulinge als auch erfahrene Nutzer anzusprechen. Die neue „AmpR Medium“-Plattform, auf der auch der Renault Megane E-Tech steht, ermöglicht eine größere 75-kWh-Batterie bei kompakten Fahrzeugabmessungen. Dadurch wird eine WLTP-Reichweite von über 600 Kilometern erreicht – dank besserer Batterie-Energiedichte, optimierter Aerodynamik und effizientem E-Antrieb.
Im exklusiven Interview mit electrive am Rande der EVS38 in Göteborg betont Shigemoto die Alltagstauglichkeit: mehr Platz im Innenraum, flacher Fahrzeugboden und verbesserte Ladeleistung durch konstante 150 kW DC mit flacher Ladekurve. Ob das reicht, um 2025 mitzuhalten? Der neue Leaf verzichtet laut Shigemoto bewusst auf ein 800-Volt-System, da es für das Fahrzeugsegment nicht erforderlich sei. Ein neu entwickelter, effizienter E-Motor sowie ein modernes Batterie-Thermomanagement sollen derweil für zuverlässige Leistung bei allen Wetterbedingungen sorgen. Zudem führt Nissan mit dem neuen Leaf auch Vehicle-to-Grid (V2G) per CCS ein. Für Shigemoto ist der neue Leaf das bislang beste Fahrzeug seiner Karriere – ein zukunftsweisendes Elektroauto, das auf einem reifen Markt neue Maßstäbe setzen soll. Wie er zu dieser selbstbewussten Einschätzung kommt, lesen Sie hier:
Beim Marktstart 2010 war der Nissan Leaf ein Pionier – ein echter Wegbereiter der Elektromobilität. Wie würden Sie die neueste, dritte Generation beschreiben, die Nissan gerade vorgestellt hat?
2010 hatte niemand ein Batterie-elektrisches Auto mit einer Lithium-Ionen-Batterie. Es war ein Meilenstein, nicht nur für Nissan, sondern wahrscheinlich für die gesamte Branche und das BEV-Segment. Seitdem haben wir technische Fortschritte bei allen OEMs gesehen. Heute haben die Kunden Erfahrung gesammelt und wir haben weltweit 700.000 Leafs verkauft, davon 290.000 in Europa. Die Menschen beginnen zu verstehen, was ein BEV ist.
Zum Beispiel haben beim bisherigen Leaf einige Kunden, die eine größere Batterie gewählt haben, festgestellt, dass sie nur eine kleine brauchen, oder umgekehrt. Ich denke, der Markt ist jetzt an einem Punkt, an dem die Kunden wissen, was sie von einem E-Auto erwarten.
Aber es ist bisher nur ein Bruchteil des Gesamtmarkts und wir werden weiterhin viele Erstkäufer von E-Autos sehen. Wir haben den neuen Leaf deshalb so konzipiert, dass er die Bedürfnisse dieses gereiften Publikums erfüllt – und gleichzeitig Neulinge willkommen heißt, indem er intuitiv und leicht zu fahren sowie einfach zu bedienen ist. Darauf liegt der Fokus beim neuen Leaf. Es ist eine Neuinterpretation – nicht nur im Design und der Performance, sondern auch, indem wir Erstkäufer nicht vergessen.
Würden Sie sagen, Nissan war mit dem ersten Leaf zu früh dran?
Das glaube ich nicht. Irgendwo muss man immer anfangen. Ein gutes Beispiel ist der erste Prius. Es hat ungefähr zehn Jahre gedauert, bis sich Hybridantriebe etabliert haben – und dann war der Rest Geschichte. Bei Elektroautos ist es ähnlich: Es hat lange gedauert, bis sich die Menschen überzeugt haben, eines zu kaufen. Aber heute, da es fast überall Ladestationen gibt, fühlen sich die Kunden sicherer, einen Stromer zu kaufen. Wir haben 2010 begonnen, und das hat uns hierhergebracht. Hätten wir später angefangen, bin ich nicht sicher, ob wir heute über den neuen Leaf sprechen würden oder die vorhandene Infrastruktur hätten.











Ein Blick unter die Haube: Was sind die drei wichtigsten technischen Fortschritte, die den neuen Leaf vom ursprünglichen Modell unterscheiden?
Oh, eigentlich alles. Mit dem ersten Leaf war es sehr schwierig, 800 Kilometer zu fahren. Damals hatte man nicht die Energiedichte, die wir heute haben. Die Aerodynamik war nicht so gut wie beim neuen Leaf und die elektrische Effizienz des Antriebsstrangs war ebenfalls nicht auf dem Niveau, das wir jetzt erreichen. Das sind die großen technologischen Fortschritte beim neuen Leaf: eine bessere Batterie-Energiedichte, verbesserte Aerodynamik und eine deutlich höhere Effizienz des E-Antriebs.
Welche Vorteile bietet die neue „AmpR Medium“-Plattform dem aktuellen Nissan Leaf?
Die neue Plattform, die auch beim Ariya genutzt wird, hat einen kürzeren Radstand. Sie ist komplett flach, sodass wir mehr Batteriekapazität unterbringen können, bei nahezu identischem Footprint wie beim Leaf der zweiten Generation. Der hatte 60 kWh, jetzt sind es 75 kWh. Ein weiterer Vorteil ist die Platzierung der HVAC-Einheit [Anm. d. Red.: Heating, Ventilation, and Air Conditioning]. Durch die Verlagerung in den Motorraum konnten wir trotz größerer Batterie den Innenraum vergrößern. Zwischen Fahrer und Beifahrer ist jetzt mehr Platz, da die HVAC nicht in der Mitte sitzt. Und auf der Rückbank haben Mitfahrer etwa 80 mm mehr Beinfreiheit. Auch die Schulterfreiheit hat dank dieses cleveren Packagings zugenommen.
Und praktisch gesehen – was bedeutet das für die Kundschaft im Alltag?
Das bedeutet zum Beispiel, dass man mit den zusätzlichen 80 Millimeter Beinfreiheit keinen der Vordersitze mehr verschieben muss, um einen rückwärtsgerichteten Kindersitz einzubauen. Zuvor musste man beim Leaf oft Fahrer- oder Beifahrersitz anpassen, um die neuesten, sichersten Kindersitze korrekt installieren zu können. Das ist ein klares Beispiel, wie wir moderne Kundenanforderungen berücksichtigen.
Die größere 75-kWh-Batterie soll über 600 km Reichweite ermöglichen. Wie wurde das erreicht und welche Rolle spielt der effiziente Antriebsstrang dabei?
Wir wiederholen gerade Zertifizierungs- und Homologationstests und sehen konstant Ergebnisse von 604 Kilometern mit der großen Batterie. Die WLTP-Durchschnittsgeschwindigkeit liegt bei rund 50 km/h, daher ist elektrische Effizienz der Hauptfaktor, auch wenn Aerodynamik natürlich wichtig ist. Geringerer Innenwiderstand der Batterie und höhere Effizienz des E-Antriebs tragen beide zur WLTP-Reichweite bei.
Bei hohen Geschwindigkeiten, etwa 130 km/h auf Autobahnen, dominiert der Luftwiderstand. Wir haben das Auto sehr strömungsgünstig gemacht, mit einem cW-Wert von 0,25 – ein Benchmark für uns. Insgesamt sorgen Effizienzsteigerungen bei Antrieb und Aerodynamik für die hohe Gesamteffizienz des Fahrzeugs.
Sie sagten, es gibt einen neuen Elektromotor im Leaf. Was macht ihn so effizient?
Wir haben Stator und Rotor – also die internen Komponenten – überarbeitet und die Magnetplatzierung optimiert. Der Motor hat ein sehr kleines Volumen, da wir den Einsatz seltener Erden reduzieren wollten. Viele Simulationen haben uns zur optimalen Form und Magnetanordnung geführt. Außerdem haben wir im Inverter anstelle von IGBT das Design und die Materialien der Chips angepasst, die die Leistung übertragen, was die Effizienz insgesamt verbessert.
Wurde dieser E-Motor intern entwickelt oder zugekauft?
Am Ende ist es ein zugekaufter Motor, aber wir haben ihn gemeinsam mit dem Zulieferer entwickelt. [Anm. d. Red.: Der Motor kommt von JATCO.]
Zur Ladeleistung: Maximal 150 kW DC klingt nicht gerade beeindruckend. Ist das für ein nagelneues Elektroauto im Jahre 2025 nicht etwas wenig?
Wir haben mit dieser Frage gerechnet. Aber ich möchte betonen: Der Leaf hat eine flache Ladekurve. Durch das Thermomanagement lädt er konstant mit rund 150 kW. Konkret heißt das: 15 Minuten bringen etwa 250 km WLTP-Reichweite. Und von 10 auf 80 Prozent SOC sind es in 30 Minuten rund 420 km Reichweite. Das ist aus unserer Sicht nicht unerheblich. Mit dieser Ladeleistung erreicht man ähnliche Gesamtreichweiten wie mit einem Qashqai e-Power von über 800 km, nur mit etwa zehn Minuten längerer Reisezeit. Das ist der Hintergrund dieser Zahlen.
Warum wurde kein 800-Volt-System verwendet?
800 Volt haben wir immer im Blick und prüfen es. Aber bei dieser Fahrzeuggröße, Batteriekapazität und den Performance-Zielen war es schlicht nicht nötig, auf 800 Volt umzustellen.
Der erste Leaf hatte Probleme mit dem Batterie-Thermomanagement. Was dürfen Kunden beim dritten Leaf im Sommer und Winter erwarten?
Die erste und zweite Generation hatten luftgekühlte Batterien, was in bestimmten Situationen zu Lade- oder Rekuperationsbegrenzungen führte. Die dritte Generation hat nun eine flüssigkeitsgekühlte Batterie und kann immer bei optimaler Temperatur betrieben werden. Ist es draußen sehr kalt, wärmen wir die Batterie vor; ist es heiß, kühlen wir sie. Wir wollen konsistente Ladeleistungen bei allen Bedingungen. Wir haben ausgiebig im Winter in Skandinavien und im Hochsommer in Südeuropa getestet und sehr stabile Ladeergebnisse erzielt.
Betrachtet man die weltweite Entwicklung der Elektromobilität – welche Botschaft sendet der neue Nissan Leaf – 15 Jahre nach dem Original?
Der neue Leaf ist ein überzeugendes Gesamtpaket, das mit vielen anderen OEMs konkurriert. Er spricht sowohl Kunden an, die bereits Elektroauto-affin sind, als auch jene, die noch überlegen, ob sie von e-Power oder Verbrenner wechseln. Langstreckentauglichkeit für Familien war gerade in Europa ein zentrales Thema – und jetzt haben wir ein Produkt, das diese Anforderungen erfüllt.
Neu ist außerdem die V2G-Funktion. Beim ersten Leaf haben wir V2H angeboten. Jetzt kommt Vehicle-to-Grid, was Haushaltsstromtarife entlasten und die Integration erneuerbarer Energien ins Netz unterstützen soll.
Und abschließend: Der Leaf ist nicht der einzige Neuzugang. Nissan bringt weitere Modelle. Welches wird für den europäische Markt am wichtigsten?
Für mich ist es momentan definitiv der neue Leaf. Vielleicht verliebe ich mich später in den Juke oder ein anderes Modell. Aber heute, nach über 20 Jahren bei Nissan, ist der neue Leaf mit Abstand das beste Auto, das ich entwickelt habe. Ich bin sehr zuversichtlich, dass unsere Kunden ihn gut annehmen werden.
Herr Shigemoto, haben Sie vielen Dank für das Gespräch!
Hinweis: Bei der nächsten Online-Konferenz electrive LIVE am 23. Juli 2025 geht es ebenfalls um Effizienz, Thermomanagement und Verbesserungen im elektrischen Antriebssystem von Elektroautos. Infos und Anmeldung hier.
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