Wie MAN bis 2030 einen vollautomatisierten Bus in Serie bringen will
Auch wenn komplett selbstfahrende Fahrzeuge längst keine Science-Fiction mehr sind – auf Deutschlands Straßen sieht man sie bislang nur in Pilotprojekten. Dabei geht es zum Beispiel um automatisiertes Ridepooling als Ergänzung zum ÖPNV wie in Hamburg bei den Projekten ALIKE und AHOI. Doch auch im ÖPNV selbst mit seinen zahlreichen Linienbussen dürfte Automatisierung schon bald eine größere Rolle spielen – zum Beispiel wenn es nach MAN geht. Denn der Münchner Konzern arbeitet schon seit Längerem an einer Revolution für den ÖPNV: einen selbstfahrenden Linienbus. Und dieser soll schon in sechs Jahren Realität werden, denn das Ziel von MAN ist es, ab 2030 ein vollautomatisiertes Fahrzeug auf den Markt zu bringen. Damit die urbane Busmobilität in Zukunft nicht nur emissionsfrei und vernetzt, sondern auch automatisiert abläuft.
Für die Automatisierung von Bussen sprechen laut MAN gleich mehrere Gründe: So können vollautomatisierte Busse dazu beitragen, dem immer stärkeren Fahrermangel zu begegnen sowie ÖPNV-Verbindungen in Städten, Ballungsräumen und im ländlichen Raum weiter zu verbessern und Versorgungslücken zu schließen. Zudem bietet vollautomatisiertes Fahren enormes Potenzial im Hinblick auf Effizienz, Sicherheit und die Total Cost of Ownership (TCO).
Um bei der Entwicklung eines autonomen Busses schnell voranzukommen, hat sich MAN an drei Projekten beteiligt: Der bereits abgeschlossenen Initiative @CITY („Automated Cars and Intelligent Traffic in the City“), die Grundlage für die weiteren Vorhaben war. Dann an dem im vergangenen Jahr in Berlin gestarteten Projekt BeIntelli. Und schließlich am Forschungsvorhaben MINGA (Münchens automatisierter Nahverkehr mit Ridepooling, Solobus und Bus-Platoons). Zu den Projekten im Einzelnen:
@CITY: Busse lernen, Haltestellen selbstständig anzufahren
Die Initiative @CITY („Automated Cars and Intelligent Traffic in the City“), ein vom Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) gefördertes Verbundprojekt, ist gewissermaßen die Grundlage aller weiteren Vorhaben von MAN, wenn es um automatisierte Busse geht. Von 2018 an erprobte MAN mit 14 Partnern aus Automobil-, Zulieferindustrie, Softwareentwicklung und Wissenschaft 48 Monate lang automatisierte Fahrfunktionen. Im Mittelpunkt stand dabei für MAN das Heranfahren an die Bushaltestelle – und damit eines der busspezifischsten Fahrmanöver. Die Experten versetzten dabei Busse in die Lage, die Haltestelle selbstständig und hochpräzise anzufahren.
Welch feinfühlige Präzision Busse dabei an den Tag legen, demonstrierte MAN bei der offiziellen Präsentation der Projektergebnisse von @CITY im Sommer 2022 auf dem Aldenhoven Testing Center. Die exakte Anfahrt an den Bordstein der Haltestelle entscheidet nicht nur darüber, ob Fahrgäste barrierefrei aus- und zusteigen können, sondern trägt auch dazu dabei, die Reifen zu schonen und dadurch Verschleiß und Kosten zu reduzieren. Und auch die Kommunikation mit anderen Fahrzeugen für das sichere Ausfahren aus der Haltestelle beherrschte der automatisierte MAN-Bus in dem Projekt bereits: Mit dem Setzen des linken Blinkers wurde gleichzeitig ein elektronisches Signal an von hinten herannahende automatisierte Pkw gesendet, damit diese abbremsen und warten, bis der Bus die Haltestelle wieder sicher verlassen hat. „@CITY hat uns wichtige Erkenntnisse auf dem Weg zum automatisierten Stadtbusverkehr gebracht und gezeigt, wie wir autonome Fahrfunktionen aber auch die Kommunikation mit anderen Fahrzeugen sinnvoll im Praxisbetrieb einsetzen können“, sagte der MAN-Projektverantwortliche Walter Schwertberger damals. Eindrücke von @CITY gibt es auf der Website des Projekts.
MINGA – automatisierter MAN Lion’s City E für die Linie in München
Seit 2023 ist MAN ein wichtiger Partner des Forschungsvorhabens MINGA (Münchens automatisierter Nahverkehr mit Ridepooling, Solobus und Bus-Platoons). In dessen Rahmen wird in München ein elektrischer Linienbus automatisiert und im Realbetrieb getestet, und zwar ein MAN Lion’s City E. Dieser wird von MAN der Münchner Verkehrsgesellschaft (MVG) zur Verfügung gestellt. Der Pilotbetrieb soll Ende 2025 starten.
„Wesentliche Teile des MINGA-Projektes sind für uns die Entwicklung der komplexen Schnittstelle zwischen Fahrzeug und Automated Driving System sowie die Integration der Systeme in unsere Elektronikarchitektur“, sagt Jana Kirchen, Produktstrategie-Managerin Automation bei MAN Truck & Bus und ergänzt: „Das ist für uns die größte technische Herausforderung in diesem Projekt. Hier kommt uns aber die im Modelljahr 2024 eingeführte, neue Elektronikplattform zugute. Aufgrund ihrer Leistungsfähigkeit und Effizienz vereinfacht sie die Integration deutlich.“
Im Pilotprojekt soll und muss ein Sicherheitsfahrer bei allen Fahrten an Bord sein. Ausgestattet wird der Lion’s City E mit einem Automated Driving System (ADS) mit hochentwickelter Sensorik, das von Mobileye kommt, einem Spezialisten für autonome Fahrlösungen aus Israel. Mit Mobileye Drive™ hat das Unternehmen ein schlüsselfertiges Selbstfahrsystem entwickelt, das für einen skalierbaren kommerziellen Einsatz bereit ist. MAN wird die notwendige Fahrzeugarchitektur für die Anforderungen der Bus-Automatisierung schaffen. „Das Forschungsvorhaben MINGA ist für uns ein wesentlicher Schritt im Hinblick auf einen ,Proof of Concept´ auf der Linie“, sagt Jana Kirchen.
Darüber hinaus erarbeitet MAN gemeinsam mit den Münchner Verkehrsbetrieben (MVG) und der Universität Stuttgart Konzepte für die technische Aufsicht des Fahrzeugs und dessen Barrierefreiheit. Insgesamt arbeiten im Forschungsvorhaben MINGA rund ein Dutzend Projektpartner aus Verwaltung, Forschung, Wirtschaft und Industrie zusammen. Dabei geht es unter anderem um die Integration der automatisierten Fahrzeuge in das bestehende Mobilitätsökosystem, On-Demand-Dienste, den automatisierten Bus-Linienbetrieb sowie die Simulation des automatisierten ÖPNVs. Das Mobilitätsreferat der Landeshauptstadt München verantwortet als Konsortialführer das Gesamtprojekt. Es wird im Rahmen der Förderrichtlinie „Autonomes und vernetztes Fahren in öffentlichen Verkehren“ durch das Bundesministerium für Digitales und Verkehr (BMDV) mit rund 13 Millionen Euro gefördert.
BeIntelli – „Erklärbus“ von MAN macht automatisiertes Fahren erlebbar
Ein weiteres Projekt, das durch das BMDV gefördert wird, realisiert MAN zurzeit gemeinsam mit dem DAI-Labor der TU Berlin sowie dem Engineering-Dienstleister IAV (Gemeinschaftsunternehmen von VW, Continental, Schaeffler, Freudenberg und SABIC). An dem Gesamtprojekt namens BeIntelli, welches im Rahmen von ZEKI | Zentrum für Erlebbare KI und Digitalisierung stattfindet, arbeitet ein großes interdisziplinäres Team aus Wissenschaft und Praxis mit dem Ziel, ein intelligentes Verkehrssystem mit automatisierten Fahrzeugen erlebbar zu machen.
„Mit dem BeIntelli-Erklärbus wollen wir Industrie, Politik, Wissenschaft und Gesellschaft die Möglichkeiten der Autonomen Mobilität der Zukunft näherbringen“, erklärt Prof. Sahin Albayrak, Konsortial- und Projektleiter BeIntelli. „Zehn integrierte Displays und sechs Tablets im Innenraum des Fahrzeugs visualisieren, wie der Bus die Umgebung wahrnimmt und voraussieht, welche Wegestrecke er plant und welche Fahrentscheidungen er trifft.“
Ein automatisierter MAN-Elektrobus vom Typ Lion’s City E, ausgestattet mit einem Automated Driving System (ADS) von ZEKI, ist im Rahmen des Projekts mit Sicherheitsfahrer im Testbetrieb unterwegs. Dieses Jahr fanden bereits Testfahrten auf nicht-öffentlichem Gelände statt. Mittlerweile hat der E-Bus auch eine erste Straßenzulassung vom Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) nach der Autonome-Fahrzeuge-Genehmigungs-und-Betriebs-Verordnung (AFGBV) erhalten.
Bei einer der ersten Testfahrten auf öffentlichen Straßen durch die Berliner Innenstadt war Alexander Vlaskamp an Bord, CEO von MAN. Er schrieb nach seiner Fahrt auf LinkedIn: „Nur ein Sicherheitsfahrer begleitete uns und die KI-basierte Technologie – aber während der 20 Kilometer langen Fahrt durch die engen und überfüllten Spuren musste er das System nicht außer Kraft setzen. Ich war sehr beeindruckt von dem Fortschritt in diesem Projekt und wie unser Bus es geschafft hat, schwierige Situationen selbstständig zu meistern. Dies ist ein weiterer wichtiger Schritt auf unserem gemeinsamen Weg in die Zukunft der Mobilität.“
Dabei fährt der autonome Elektrobus durch ein fest definiertes urbanes Testfeld im Herzen Berlins, das vom Brandenburger Tor über den Ernst-Reuter-Platz, die Gedächtniskirche bis zum Adenauerplatz reicht. Bestückt mit modernster Sensorik stellt dieses Testfeld eine komplett digitalisierte Strecke dar. Mit einer interaktiven Bushaltestelle für den digitalisierten ÖPNV und weiterer Infrastruktur für die automatisiert agierende Fahrzeugflotte präsentiert und erklärt „BeIntelli“ den aktuellen Forschungsstand.
Der Fokus von MAN liegt bei dem Projekt auf dem Thema Aktuatorik und damit auf Systemen wie der elektrischen Lenkung, einer Schlüsseltechnologie für das autonome Fahren. Zudem sollen mit dem Projekt vor allem die Grundlagen für die Integration der ADS-Hardware und -Software in die Fahrzeuge geschaffen werden. Der „Erklärbus“ wurde für seinen Einsatz digitalisiert und mit rund 60 Sensoren (Kameras, Ultraschall, Radar, 3D Lidar) ausgestattet, die den Verkehr und den Verkehrsraum überwachen. Auch wurden in dem Bus Bildschirme und weitere Kommunikationskomponenten eingebaut, damit Fahrfähigkeiten, Fahrentscheidungen und Technologien visualisiert und den Fahrgästen erklärt werden können.
Der Weg zum Serienprodukt
Mit Hilfe der einzelnen Projekte will MAN wertvolle Erfahrungen für künftige automatisierte Fahranwendungen sammeln. Besonders zentral für MAN ist dabei das Vorhaben MINGA – mit der Finalisierung dieses Projekts in den kommenden Jahren soll für MAN die Konzeptphase für autonome Busse enden. Im Anschluss sollen bereits erste Feldversuche mit Kunden starten. Schon heute führen die Experten von MAN Gespräche mit potenziellen Partnern und tauschen sich intensiv mit Kunden aus. „Die vielen Nachfragen seitens der Verkehrsunternehmen zeigen deutlich, wie groß das Interesse an autonomer Mobilität ist und dass der Bedarf am Markt vorhanden ist“, so Jana Kirchen.
Um im Rahmen der Feldversuche umfassende Erkenntnisse zu gewinnen, will MAN die autonomen E-Busse in verschiedenen Märkten und Use Cases testen. Dabei stellt die Entwicklung eines vollautomatisierten Fahrzeugs nach SAE Level 4 besondere Anforderungen an die sicherheitstechnische Ausgestaltung der Fahrzeuge. So sollen die Fahrzeuge im Betrieb zu jedem Zeitpunkt einen sichereren Zustand einnehmen können. Für den unwahrscheinlichen Fall eines Systemausfalls müssen alle sicherheitsrelevanten Funktionen beispielsweise über Redundanzen abgesichert sein. „Wir möchten sicherstellen, dass Systemelemente wie das ADS, Bremsung, Lenkung, Energiebereitstellung und Kommunikation innerhalb des Fahrzeugs und zur technischen Aufsicht immer funktionieren. Wenn wir dies umgesetzt haben, können wir in definierten Betriebsbereichen auch ohne Sicherheitsfahrer unterwegs sein“, sagt Jana Kirchen und ergänzt: „Dies wird ein wesentlicher Meilenstein für uns nach dem MINGA-Projekt sein, bei dem unseren Bus noch ein Sicherheitsfahrer auf allen Fahrten begleiten wird.“
Im Laufe der Feldversuche sollen Technik und AD-Systeme stetig weiter verbessert und im Hinblick auf die Anforderungen von Kunden und Fahrgästen optimiert werden. „MAN betrachtet den vollautomatisierten Bus als Gesamtkonzept und denkt neben den reinen Fahrfunktionen auch das benötigte Ökosystem und weitere Busfunktionen mit“, führt Jana Kirchen weiter aus. So will es MAN schließlich ermöglichen, dass der erste autonome E-Bus im Jahr 2030 in Serie gehen kann.
Natürlich müssen für eine Zulassung dabei diverse Vorschriften aus der Autonome-Fahrzeuge-Genehmigungs-und-Betriebs-Verordnung (AFGBV) beachtet werden. So gilt bislang etwa, dass autonome Fahrzeuge nur in festgelegten und vorab genehmigten Betriebsbereichen unterwegs sein dürfen. Aber das ist im Linienbetrieb ein durchaus realistisches Szenario. So räumt denn auch das Kraftfahrtbundesamt (KBA) dem autonomen Fahren im Bus-Bereich große Chancen ein: „Es ist zu erwarten, dass es in fünf bis zehn Jahren einen breiten Einsatz selbstfahrender Busse und Lkw geben wird, die ganz ohne Fahrer unterwegs sind. Die Anschaffung ist zwar teuer, aber die Vorteile, die gewonnene Flexibilität, sind riesig“, sagte KBA-Präsident Richard Damm vor kurzem in einem Interview. Und Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter sieht ebenfalls großen Potenzial gerade angesichts des Personalmangels: Die Stadt habe viele Busse, „aber niemanden, der sie fährt“.
man.eu, spiegel.de (Damm/Reiter)
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